Krisenkapitalismus und neuer Realismus: Von der Tragödie des ›Leistungsträgers‹ zur Ästhetik der Disruption?
Ingar Solty
Im Jahre 11 der globalen Krise offenbart sich rückblickend eine immens beschleunigte Geschichte. Die Finanzkrise von 2007 weitete sich rasch zur Weltwirtschaftskrise aus und wurde mit dem staatlichen Krisenmanagement in eine Staatsschuldenkrise überführt. Das Scheitern der Ansätze einer grünen Kapitalismusreform von oben mündete in die globale austeritätspolitische Wende vom Frühjahr 2010. Auch infolge derselben entstand wiederum ein neuer Tarrowscher Massenprotestzyklus (Arabischer Frühling, Israelischer Sommer, Wisconsin Uprising, Occupy Wall Street 2011, Fight for 15, Occupy Nigeria und Canadian Maple Spring 2012, chilenische Bildungsstreiks 2011-2013, 15-M u.a. südeuropäische Anti-Troika-Proteste 2011-2015 etc.). Zugleich haben sich – teilweise auch in Folge dieser Massenproteste – neue Kriege wie ein Feuerring um Europa gelegt (Ukraine, Syrien, Irak, Libyen, Mali) und der blutige Stellvertreterkrieg in Syrien verstärkt die Terrorgefahr im ›Westen‹. In dieser Gemengelage hat sich eine dreifache Polarisierung zwischen einem neoliberalen Weiter-so-Establishment ergeben, das nach rechts zu einem autoritären Nationalismus (Trump, UKIP, Front National, AfD, FPÖ, etc.), der an die Schalthebel der Macht greift, und nach links zu einem (klassen-)konfliktorientierten Neosozialismus (Sanders, Corbyn, Mélenchon, DIE LINKE, SYRIZA, Podemos, etc.) ausfranst.
Wie reagiert nun die Literatur auf diese historische Ereignisbeschleunigung? Periodisch wiederkehrend erfolgt seit der »Battle of Seattle« und 9/11 die Ausrufung vom Ende des Postmodernismus. Tatsache ist: Der Ruf nach einem neuen, ja das »Lob des Realismus« (Bernd Stegemann) wird immer lauter. Und jenseits des »Pseudo-Realismus« (Enno Stahl) existiert schon heute auch ein neuer sozialer Realismus, der auf der Grundlage der Literatur als »eigenständiges Erkenntnismedium« (Wolfgang Fritz Haug) operiert.
Jedoch: Viele deutschsprachige Gegenwartsromane lassen sich unter die Kategorie der »Tragödie des Leistungsträgers« subsumieren. Ist diese aber – mit Joyce gesprochen – disruptiv, weil sie dem lesenden Subjekt eine kathartische Distanz zu bestehenden Herrschaftsverhältnissen, denen wir unterworfen sind, verleiht? Oder zementiert sie diese Strukturen dadurch noch umso mehr zu neuen Ordnungen des systemischen Chaos, weil sie ausweglos bleiben? Wie könnte eine kritische Ästhetik der Disruption aussehen bzw. welche beispielhaften Ansätze für eine solche Literatur gibt es bereits?